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Eine neue Schrift

Man kann die neuen Klänge, erst recht nicht die der elektronischen und/oder der elektro-akustischen Musik, nicht mehr einzwängen zwischen 5 Notenlinien und dort positionieren mit ein paar Köpfen mit Hälsen. Auch erscheint ein Klang in einem traditionellen Konzert- oder Kirchenraum anders als in einem offenen freien Außenraum. Darauf sollte die Schreibweise des Komponisten reagieren. Für mich wichtig: Ein offenerer Umgang mit Zeit und Raum, ein freierer Gestaltungsweg des Spielens, die Idee der „Grenzüberschreitung“ und die Begegnung von Welt und Klang.
Wittwulf Y Malik

Ein offener Umgang mit Zeit und Raum

„9 grafische Notationen“
1977

Das Denken der Neuen Musik, wie es sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte, lässt sich nicht mehr mit der alten traditionellen Notenschrift darstellen. Zeit und Raum werden freier erfahren und die Neue Musik geht mit diesen Dimensionen offener um. Man kann die neuen Klänge, erst recht nicht die der elektronischen und/oder der elektro-akustischen Musik, nicht mehr einzwängen zwischen 5 Notenlinien und dort positionieren mit ein paar Köpfen mit Hälsen. Auch erscheint ein Klang in einem traditionellen Konzert- oder Kirchenraum anders als in einem offenen freien Außenraum. Darauf muss die Schreibweise des Komponisten reagieren.

Eine Musik, z.B. die der indigenen australischen Völker mit ihren Didgeridoos und den durchgehenden Klängen der Zirkularatmung, braucht also eine andere Darstellung, wenn man sie zur Wiederholung fixieren will. Da wurden ab ca. 1950 verschiedene Versuche einer passenden Schreibform gemacht, zum Teil noch sehr an die alte tradierte angelehnt, dann aber auch bis hin zu vollkommen freien grafischen Zeichensetzungen.

Die Inspiration zu meiner Notationsform mit Pinsel und schwarzer Tusche (meist) auf Notenpapier ergab sich in einem mehrjährigen Prozess, der ganz unwissend, dass da einmal eine Notationsform entstehen würde, begann, indem ich im Rahmen meines spirituellen Fragens und Suchens in den frühen 1970er Jahren Schüler beim Zen-Buddhistischen Meister (Roshi) Philip Kapleau in den USA wurde. Meine Gestaltungen in den meditativen Malzeremonien, in die ich später eingeführt wurde, wurden im Laufe der Zeit immer freier, spielerischer und 1981 während eines Stipendiums der Berliner Akademie der Künste in der „Villa Serpentara“ in Olevano Romano (südlich von Rom) wurde mir plötzlich klar, dass diese freien Zeichen auch musiziert werden können und meine erweiterten Klangvorstellungen plausibel darzustellen vermögen. Diese frühen grafischen Experimente von 1977 zeigt diese Abbildung.

„9 grafische Notationen“ : Bleistift, Buntstifte, Federhalter, Pinsel; Größe eines Blattes 21 x 15 cm.

Wittwulf Y Malik

Ein freierer Gestaltungsweg des Spielens

„Für Posaune Solo“, op. 40
1983

Sich intensiv auf das Spielen einzulassen und einen eigenen Gestaltungsweg zu erarbeiten, also eine sehr persönliche Musik entstehen zu lassen, die aus der eigenen Auseinandersetzung und Identifikation erwächst, das war die Intention der Notationen, die seit 1981 entstanden sind.

Schon damals hatten meine Notationen eine relativ feste Form gefunden. Mit Pinsel und Tusche entwickelten sich diverse Werke, grafische Blätter, die gerne von anderen Musikern interpretiert wurden.

„Für Posaune Solo“, op. 40, in 4 Sätzen: 1. Warm, voll, 2. Leicht, hoch, 3. Schnell, unruhig, 4. Ganz tief tönend; mit Pinsel und schwarzer Tusche auf Notenpapier, Größe der einzelnen Originalblätter jeweils DIN A3, Uraufführung durch Heinz-Erich Gödecke am 1.2.1984 in der Kirche St. Raphael, Hamburg-Wilhelmsburg.

Grenzüberschreitungen

Ausstellung in der Phonothek der Hamburger Kunsthalle (Altbau-Treppenhaus).
„Aphorismen“, op. 47, 8 / 1985, für Violoncello Solo.
„Trio“ für Altstimme, Violoncello und Synthesizer-Sounds, op. 54.
1984 / 1985

Die Idee der „Grenzüberschreitung“ einer Kunstgattung in eine andere wurde in den 1960er Jahren aktuell, so wurden in diesem Sinne auch meine grafischen Notationen sowohl als Kompositionen verstanden, aber eben auch als grafische Werke der bildenden Kunst.

Prof. Werner Hofmann als Direktor der Hamburger Kunsthalle und der Kurator Achim Lipp luden mich 1984 ein, meine Arbeiten in einem extra dafür geschaffenen Ausstellungsbereich, der „Phonothek“, zu zeigen, wo man die Notationen als Bildwerke sehen konnte, aber durch die Abspielmöglichkeit mit Kassetten in geloopten Rekordern und über Kopfhörer die Werke auch als Musik, als Klanggeschehen, hören konnte.

„Aphorismen“, op. 47, 8 / 1985, für Violoncello Solo.

Ein weiteres Beispiel dieser Notationsart mit Pinsel und Tusche.
Uraufführung am 20.1.1985 in der Galerie Marzee, Nimwegen, Niederlande
Kaschiert, mit Passepartout in Alurahmen, 115 x 37,5 cm

Wittwulf Y Malik

„Trio“ für Altstimme, Violoncello und Synthesizer-Sounds ,op. 54, in 4 Sätzen: 1. Markant, 2. zart, zärtlich, 3. heftig, dann abflauend, 4. Still

Uraufführung am 19.6.1998 während der Eröffnung der Ausstellung „visible music / musical vision“ durch Tamara Kapcha, Gesang, Wittwulf Y Malik, Violoncello, Vladimir Kapcha, technische Assistenz. Dies ist eins der wenigen Arbeiten, wo ich mit Farben die unterschiedlichen Stimmen gekennzeichnet habe. Die jeweilige rote Grundfläche zeigt die Dynamik der zuzuspielenden elektronischen Klänge.

Die Welt und ihr Klang: Bild wird Klang / Klang wird Bild.

„Das neue Lied von der Erde I“, (Gustav Mahler gewidmet).
„TRANSART / 7X7 Neuenkirchen“, op. 87.
1987 / 1994

1986 begann ich während eines Kompositions-Stipendiums des Landes Niedersachsen, wo ich im „Künstlerhof Schreyahn“ in einem ehemaligen und dann umgebauten Bauernhof im Rundlingsdorf Schreyahn im Wendland lebte und arbeitete, mit den Experimenten, landschaftliche Strukturen und Situationen zu fotografieren und dann auf vergrößerten Fotokopien mit grafischen Kompositionszeichen zu übermalen. Bei dieser ersten Arbeit interessierte mich der Grünbelag auf dem Schreyahner Dorfteich und die Schattenbildungen der umliegenden Bäume auf dem Wasser.

Das neue Lied von der Erde I, (Gustav Mahler gewidmet), mit Pinsel übermalte schwarz-weiß-Fotokopien, Größe der 2 Papierbahnen jeweils 280 x 54 cm.

„TRANSART / 7X7 Neuenkirchen“
op. 87 / 1994, hier die 4-teilige Serie „Getreide“.

Ruth Falazik, die Leiterin des Kunstvereins, dessen Schwerpunkt das Thema „Kunst und Landschaft“ war, hatte mich zu dieser Ausstellung eingeladen. In Fortführung des oben beschriebenen Konzeptes suchte ich dann für dieses Projekt 7 Landschafts-Situationen aus, die ich jeweils siebenmal für eine Fotosequenz fotografierte und außerdem machte ich am jeweiligen Ort der Fotografie und im selben Moment eine 15-minütige Tonaufnahme der aktuellen Klangsituation. Die Situationen waren: 1. ein Getreidefeld mit Grillenstimmen, 2. ein Maisfeld mit dem Rauschen des Windes, 3. ein bewachsenes Teichufer mit Froschgequake, 4. Wasserpflanzen mit Sound von fließendem Wasser, 5. eine Baumgruppe mit Vogelstimmen, 6. ein Asphaltfleck mit dem Sound eines vorbeifahrenden Porsche, 7. Köpfe von Kühen und ihr Gebrüll.

Die folgenden Arbeitsschritte waren: Strukturfindung der jeweiligen Fotosequenz und Übermalung einer schwarz-weiß-Fotokopie mit diesen strukturellen Momenten, um daraus dann die jeweilige Notation zu gestalten, die mit Pinsel und schwarzer Tusche auf Notenpapier gemalt wurde.

Aus den Tonaufnahmen nahm ich eine kleine Sequenz heraus und mit dem Computer-Verfahren der Fast-Fourier-Transformationsanalyse konnte eine dreidimensionale Darstellung des jeweiligen Klanges hergestellt werden.

So ergab sich letztlich eine Überkreuzung der Orte und Zeiten: Das Bild des Ursprungsortes wurde über den Weg der Notation in der Klangperformance der Ausstellungseröffnung zu Klang und der aufgenommene Klang vom Ort der Fotografie wurde zu einem grafischen Bild, wobei die aufgenommenen 7 Klänge in der Performance per Tonband und Lautsprecher phasenweise auch noch zur Live-Musik von Gesang, Blasinstrumenten und Schlagwerk mit eingespielt wurde. In der Abbildung ist Werkgruppe Nr. 1 („Getreide“) zu sehen.

Entsprechend besteht jede der 7 Werkgruppen aus 4 Papierbahnen: 7 Farbfotos, 7 farbig übermalte schwarz-weiß-Fotokopien, 7 mit Pinsel und schwarzer Tusche auf Notenpapier gemalte Notationen, 7 Computergrafiken (Fast-Fourier-Transformationsanalysen) von den vor Ort mit Tonband aufgenommenen Klängen, Format jeder Werkgruppe: 238 x 280 cm.

Die Uraufführung war bei der Ausstellungseröffnung im Kunstverein „Springhornhof“ in Neuenkirchen/Soltau in der Lüneburger Heide, 16.7.1994, mit Regina Schulte am Hülse, Gesang, Hannes Wienert, Blasinstrumente, Ronald Dransfeld, Schlagwerk, Wittwulf Y Malik, Tontechnik. Eine ausführliche Beschreibung des Werkzusammenhanges findet sich im folgenden Zeitungsbericht:

„TRANSART / 7X7 Neuenkirchen“
op. 87 / 1994“: 7 Werkgruppen, Format jeder Werkgruppe: 238 x 280 cm.
Ausstellung „Museum Schloss Salder“, Salzgitter.

Das oben beschriebene Werkprojekt hatte eine direkte Folgeausstellung im Herbst desselben Jahres im „Museum Schloss Salder“, Salzgitter, Eröffnung am 14.9.1994.

Wittwulf Y Malik

Notationen-Ausstellung im Saal des Rathauses Rotenburg/Wümme

links: „Für Posaune“, op. 40 / 1983
Mitte links: „Das neue Lied von der Erde I“, 1987, mit Pinsel übermalte schwarz-weiß-Fotokopien, Größe der Papierbahnen jeweils 280 x 54 cm
Mitte rechts: „. . . und er ging auf den Wassern . . .“, op. 39 / 1983, für Stimme, Violoncello und Klavier
rechts: „Aphorismen“, op. 47, 8 / 1985, für Violoncello Solo, in 8 Sätzen

„Das neue Lied von der Erde II“
op. 122 / 2002

4 übermalte Fotografien (vom Schreyahner Dorfteich) und 10 grafische Notationen, kaschiert, mit Passepartout in Alurahmen, 70 x 100 cm

„Wassergras“
op. 123 / 2002
5 Farbfotos (aus Neuenkirchen) und 10 Notationen, kaschiert, mit Passepartout in Alurahmen, 70 x 100 cm
„Duisburger Wassermusik“
op. 128 / 2003
2 Papierbahnen: 9-teilige Fotosequenz und 9-teilige Notation (schwarze Tusche auf Notenpapier), Größe der Bahnen: jeweils 267 x 41 cm
Ausstellung „Museum Schloss Bergedorf“, Hamburg, 2010
Werkgruppe 4 („Wassergras blau“), aus „TRANSART / 7X7 Neuenkirchen", op. 87 / 1994
Werkbeschreibung s.o. 1994
Wittwulf Y Malik

Ausstellung „Museum Schloss Bergedorf“, Hamburg, 2010
/ op. 89 / 1995. 4 Papierbahnen aus „TRANSART / Bleckeder Licht“

1995 erhielt ich ein Stipendium für bildende Künstler vom Land Niedersachsen zum Aufenthalt auf Schloss Bleckede (oberhalb von Lüneburg, direkt an der Elbe gelegen). Dort arbeitete ich mit derselben Methodik, wie oben bei „TRANSART / 7X7 Neuenkirchen“, op. 87 / 1994, beschrieben. Hier entstanden 4 Werkgruppen: die Elbe im Nachmittagslicht, im Abendlicht und im Nachtlicht und als vierte eine helle Wolkenlicht-Formation. Es besteht jede der 4 Werkgruppen aus 4 Papierbahnen: 7 Farbfotos, 7 farbig übermalte schwarz-weiß-Fotokopien, 7 mit Pinsel und schwarzer Tinte auf Notenpapier gemalte Notationen, 7 Computergrafiken (Fast-Fourier-Transformationsanalysen) von den vor Ort des Fotografierens mit Tonband aufgenommenen Klängen, Format je Werkgruppe: 238 x 280 cm. In dieser Abbildung hier 4 Ausschnitte aus dem 16-teiligen Werk: Die Fotografien und Notationen von „Nachtlicht“ und „Abendlicht“.